Mit Technologie allein schaffen wir die Energiewende nicht

Wirtschaft, Wissenschaft und Politik müssen gemeinsam eine Vision für eine ökologische Zukunft entwickeln, sagen die Politik- und Wirtschaftsphilosophin Katja Gentinetta und der Trendanalyst Stephan Sigrist. Unternehmen, die wie die BKW in den Bereichen Energie, Gebäude und Infrastruktur tätig sind, spielen dabei eine besonders wichtige Rolle – gerade jetzt.

Wie wichtig sind die Überlegungen zu einer nachhaltigen Energiewende noch, angesichts der aktuellen Entwicklung? Steht jetzt nicht erst einmal die Versorgungssicherheit im Vordergrund, egal ob nachhaltig oder nicht?

Stephan Sigrist: Gerade die Krise zeigt, dass der Übergang in regenerative Energien wichtiger denn je ist – nicht nur aus ökologischer Perspektive. Gleichzeitig ist klar, dass die kurzfristige Versorgung wichtig ist, um Stabilität zu gewährleisten. Es kommt also darauf an, entsprechend flexibel planen zu können – auch im Umgang mit künftigen Krisen. Zentral ist aber, dass wir den langfristigen Kompass nicht aus den Augen verlieren.

Katja Gentinetta: Die Sachlage ist im Prinzip unverändert: Entweder ist die Art der Energieversorgung ein Problem für die Umwelt oder nicht. Wenn sie es ist, gilt es, die Energiewende konsequent voranzutreiben und angesichts der offensichtlichen Abhängigkeit sogar zu forcieren. Geändert hat sich höchstens der Umstand, dass diesbezüglich nicht mehr mit Illusionen hantiert werden kann, sondern eine realistischere Einschätzung der Kosten-Nutzen-Abwägung notwendig ist.

Katja Gentinetta zur Zukunft der Energie

Katja Gentinetta, politische Philosophin und Universitätsdozentin.

Wo stehen wir in der Nachhaltigkeitsdebatte und wie schaffen wir ein Umdenken?

Gentinetta: Wir müssen einsehen, dass wir die Energiewende nicht gratis haben können. Alle wollen mitmachen, aber es darf nichts kosten. Nach der «grünen Welle» bei den Wahlen 2019 war die Schweiz geradezu euphorisch. Mit dem abgelehnten CO2-Gesetz kam dann der Reality Check. Das ist in anderen Ländern ähnlich: Wenn die Energiekosten steigen, regt sich Widerstand.

Sigrist: Es braucht jetzt eine grosse Vision, nicht nur den Blick auf einzelne Technologien. Erkennt die Gesellschaft, dass die Lebensqualität trotzdem hoch sein kann, dann akzeptiert sie im konkreten Fall auch die Kosten und Einschränkungen.

 Katja Gentinetta, politische Philosophin & Universitätsdozentin,
«Wir müssen einsehen, dass wir die Energiewende nicht gratis haben können. Alle wollen mitmachen, aber es darf nichts kosten.»
Katja Gentinetta, politische Philosophin und Universitätsdozentin. Foto: Benjamin Hofer

Können Regierungen über das Volk hinweg die Energiewende vorantreiben?

Gentinetta: In einer Demokratie muss sich die Regierung an dem orientieren, was die Bevölkerung will. Gleichzeitig aber hat sie eine Führungsverantwortung. Sie muss vorangehen und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Strategien entwickeln – und damit einen erfolgsversprechenden Weg aufzeichnen.

Sigrist: In der Nachhaltigkeit liegen für führungsstarke Regierungen grosse volkswirtschaftliche Chancen. Ein Land kann im internationalen Wettbewerb aufsteigen, indem es neue Technologien vorantreibt und so attraktive Stellen schafft.

Stephan Sigrist zur Zukunft der Energie

Stephan Sigrist, interdisziplinärer Stratege und Gründer des Think Tanks W.I.R.E.

Gibt es ein Land, das Sie mit seiner Nachhaltigkeitspolitik besonders überzeugt?

Gentinetta: Norwegen scheint seine Politik recht zielbewusst auf Nachhaltigkeit auszurichten. Es investiert viel in den Ausbau erneuerbarer Energien, es nutzt seinen Staatsfonds – der sich aus der Ölförderung speist – bewusst für die Forcierung der Energiewende, es legt viel Wert auf nachhaltige Anlagen, erforscht die CO2-Speicherung im Meer; Oslo, das 2019 zur Umwelthauptstadt Europas gekürt wurde, hat ein CO2-Budget und richtet seine Politik darauf aus – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Sicher aber gibt es zahlreiche weitere Beispiele von Initiativen, die nachahmenswert wären.

Sigrist: Man muss unterscheiden zwischen Ankündigungen und bereits erreichten Ergebnissen. Bei den Zielsetzungen stehen die EU und England weit vorn, hier braucht es aber noch die Umsetzung in konkrete Pläne, die sich auch politisch durchsetzen lassen. Bei konkreten Ergebnissen ist Marokko beispielsweise gut unterwegs, wo bereits 35 Prozent des Stroms von erneuerbaren Energiequellen stammen, in diesem Fall dank Solaranlagen. Auch Indien investiert viel in neue Energien und könnte die gesetzten Ziele früher erreichen als geplant.

Es ist klar, dass ambitionierte Klimaziele nicht ohne die Politik erreicht werden können, dennoch sollte das Benchmarking nicht allein auf nationaler Ebene stattfinden, da man sich so immer hinter politischen Hindernissen verstecken kann. Auch ist es jetzt wichtig, einzelne Referenzprojekte zu identifizieren, die einen wesentlichen Beitrag leisten können und gleichzeitig von der Bevölkerung akzeptiert werden. Letztlich sollte gerade ein Land wie die Schweiz Vorreiterin sein. Beispielsweise könnte die Idee, Autobahnen mit Solarpanels zu überdachen, wegweisend sein.

Stephan Sigrist, interdisziplinärer Stratege und Gründer des Think Tanks W.I.R.E.
«Unternehmen sind es gewohnt, strategisch langfristig zu denken und schauen mit ihrem langfristigen Investitionshorizont weiter in die Zukunft als die meisten Politiker. »
Stephan Sigrist, interdisziplinärer Stratege und Gründer des Think Tanks W.I.R.E.

Gehen wir von der Politik zur Wirtschaft. Welche Rolle spielt sie?

Sigrist: Unternehmen sind es gewohnt, strategisch langfristig zu denken und schauen mit ihrem langfristigen Investitionshorizont weiter in die Zukunft als die meisten Politiker. Ausserdem braucht es die Wirtschaft, um eine nachhaltige Zukunftsvision in konkrete Veränderung zu übersetzen. Allerdings gefährdet der Fokus auf Quartalsergebnisse das langfristige Denken und Handeln. Es braucht darum dringender denn je eine mehrheitsfähige gemeinsame Vision. Um diese umzusetzen, braucht es einen vorausschauenden Regulator und mutige Unternehmen, die konkrete Lösungen entwickeln. Der Klimawandel kann nur als Gemeinschaftsprojekt und über nationale Grenzen hinweg überwunden werden.

Steht die Bevölkerung der Wirtschaft nicht kritischer gegenüber als auch schon?

Gentinetta: Ich habe manchmal sogar den Eindruck, die Bevölkerung wolle die Verantwortung an die Wirtschaft delegieren. Diese soll in ihre Nachhaltigkeit investieren, jedoch ohne die Kosten dafür zu überwälzen, denn der eigene Wohlstand soll nicht leiden müssen.

Sigrist: Tatsächlich werden Unternehmen immer stärker von gesellschaftlichen Debatten gefordert. Sie haben eine enorme Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Es geht darum, dies als Chance und nicht als Einschränkung zu sehen. Denn durch das Verknüpfen von wirtschaftlicher Wertschöpfung mit Mehrwerten für die Gesellschaft wird Vertrauen geschaffen. Dies fördert letztlich auch Stabilität und Wohlstand.

Reichen freiwillige Massnahmen der Wirtschaft? Oder braucht es am Ende doch staatlichen Zwang, um die Wende zu schaffen?

Gentinetta: Es braucht gute Rahmenbedingungen, Regulierungen und strengere Gesetze. Aber diese Gesetze dürfen nicht einfach vom Staat diktiert und von der Wirtschaft umgesetzt werden. Idealerweise setzen sich beide an den Tisch und fragen: Wie schaffen wir die richtigen Bedingungen, so dass Unternehmen möglichst wirkungsvoll investieren können?

Sigrist: Die Unternehmen haben eine riesige Chance, durch freiwilliges Engagement die Gesellschaft in die Zukunft zu führen. Dafür braucht es das Zusammenspiel eines vorausschauenden Staats, der nicht einfach mit der Giesskanne reguliert, sondern die künftigen Rahmenbedingungen gestaltet. Zum Beispiel das Recht auf Reparatur als wichtiges Fundament für eine Kreislaufwirtschaft, das die EU jetzt durchsetzt.

Wie zuversichtlich sind Sie: Werden wir den Übergang in eine nachhaltige Welt schaffen?

Sigrist: Das Thema hat bei Politik und Bevölkerung eine hohe Priorität und weltweit verpflichten sich Unternehmen jetzt auf Nachhaltigkeitsziele. Das stimmt mich positiv. Allerdings mangelt es an Kompromissfähigkeit. Wir verzetteln uns in langen Diskussionen und dafür fehlt die Zeit. Der Innovationsfokus muss darum nicht allein auf den Technologien liegen, sondern darauf, diese Lösungen in den Alltag zu bringen. Gleichzeitig geht es darum aufzuzeigen, wie wir trotz Einschränkungen neue Freiheiten gewinnen und als Gesellschaft profitieren.

Gentinetta: Ich bin zuversichtlich, auch wenn das aktuelle Umsetzungstempo nicht genügt. Umstellungen in einer Gesellschaft brauchen Zeit. Umgekehrt werden die steigenden Energiepreise helfen, den Prozess zu beschleunigen.

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Stephan Sigrist, interdisziplinärer Stratege und Gründer des Think Tanks W.I.R.E., ist seit vielen Jahren interdisziplinärer Zukunftsforscher für Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft mit Schwerpunkt auf Trends in der Digitalisierung, der Urbanisierung oder neuen Produktionsformen. Weiterlesen auf  W.I.R.E, Think Tank for Business, Science and Society

Katja Gentinetta, Politische Philosophin und Universitätsdozentin, ist seit über zehn Jahren selbstständige Publizistin und in strategischen Führungspositionen tätig. Sie ist Wirtschaftskolumnistin der NZZ am Sonntag und publiziert und referiert international zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Themen. Weiterlesen auf: www.katja-gentinetta.ch

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