Nochmals herzlichen Glückwunsch zur Silbermedaille, eine tolle Leistung! Wie fühlen Sie sich gerade – freuen Sie sich noch oder trainieren Sie schon wieder?
Ich freue mich immer noch riesig, trainiere aber auch schon wieder und fahre Rennen. Das Leben geht ja trotz Medaille weiter, aber es fühlt sich so an, als ob ich ein ganz grosses Geschenk bekommen hätte.
Ich bekomme noch immer viele schöne Rückmeldungen und Reaktionen. Das ist ein ganz spezieller Moment in meinem Leben.
Ihr Ruf als Schweizer Veloheldin behagt Ihnen nicht so. Warum nicht, es ist doch schön, Erfolg zu haben?
«Veloheldin» lässt mich schmunzeln. Damit habe ich kein Problem. Im Gegenteil finde ich dieses «sich gegen aussen herunterreden und dafür gegen innen umso kompetitiver sein» vieler Schweizerinnen und Schweizer ungesund. Es würde uns guttun, offener zu unseren Ambitionen zu stehen und sich über Erfolge zu freuen. Ich bin stolz darauf, was ich auf dem Rad erreicht habe. Weiten die Medien jedoch mein «Heldentum» auf x Lebensbereiche aus, dann bin ich nicht mehr einverstanden.
In den Medien wurden sie kürzlich mit dem Satz zitiert: «Es gibt so viele Dinge, die ich nicht kann.» Was können Sie denn nicht?
Beispielsweise machen mir sämtliche Aktivitäten, die ein gewisses Geschick «fern vom Boden» verlangen, äusserst Mühe. Als ich im Schulsport nach dem hundertsten Anlauf einen geführten Salto gewagt hatte, befand ich mich danach einen Nachmittag lang in Schockstarre und habe es seither nie wieder getan. Ebenso flehte ich schon nach der Rega auf einer Bergkrete, wo andere Leute noch fröhlich ihr Picknick verspeisten.
Es heisst, Sie haben sich ursprünglich gar nicht für Strassenrennen interessiert. Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, ausgerechnet mit dem Rennrad Wettkampfsport zu betreiben?
Von Natur aus kompetitiv, hatte ich schon immer Freude daran, auf dem Rad Vollgas zu geben und andere und mich selbst herauszufordern. Da ich mit einem sehr starken Motor gesegnet scheine, lag es irgendwann auf der Hand Wettkämpfe zu bestreiten. Ein nicht unwesentlicher Faktor hierbei war der Radverein Ersigen, wo ich trainierte und gefördert wurde. Wirklich zum ersten Wettkampf im Radsport geschickt hat mich mein erster Trainer Bruno Guggisberg, ohne mir im Voraus gross etwas davon zu erzählen. Nach diesem Sprung ins Kalte Wasser wollte ich sofort den Bättel an den Nagel hängen.
Verraten Sie uns Ihre Strategie, wie man als Späteinsteigerin bis an die Spitze kommt?
Ich habe über viele Jahre eine gewisse Grundausdauer aufgebaut und immer wieder Dinge unternommen, die mich physisch ans Limit brachten. Von Bern nach St. Gallen mit dem Rennrad, sämtliche Alpenbrevet-Touren alleine abfahren, die Niesen-Treppe in einem Zug so schnell wie möglich hoch – mir gingen die Ideen nicht aus. Das zahlt sich heute aus. Meine Empfehlung: Auf eine gute Ausbildung setzen und den Ausdauersport parallel als Hobby verfolgen. Fehlt die Freude, dann sowieso die Hände weg davon. Wenn Talent vorhanden ist, in ein professionelleres Trainingsregime umsteigen und schauen, was drin liegt.
Was fasziniert Sie heute am meisten an Ihrer Sportart?
Velofahren finde ich etwas total Schönes und Befreiendes. Die Grenzen setzt die Natur oder der eigene Körper, alles andere ist frei. Es gefällt mir, den eigenen Körper zu stärken und meine Kraft zu fühlen. Auf dem professionellen Niveau, auf dem ich trainiere, ist Velofahren zwar ab und an mehr Leiden als Leidenschaft. Aber mit alldem, was ich im Abenteuer Radsport erleben darf und mit den vielen Erfolgen, ist es mir das mehr als Wert.
Mal ehrlich, ist es nicht doch das Gewinnen?
Ohne Erfolge würde ich diesen Sport mit Sicherheit längerfristig nicht so betreiben. Aber würde das Drumherum nicht stimmen, würde ich es auch nicht machen.
Worauf könnten Sie beim Profisport gut verzichten – was mögen Sie gar nicht?
Die viele Fliegerei, ein notwendiges Übel im professionellen Radsport. Der viele Reis. Das immer wieder vor körperlicher Erschöpfung lahmgelegte Gehirn.
Gibt es Situationen, in denen Sie Angst haben? Und was tun Sie dann?
Mittlerweile habe ich gelernt, gefährliche Situationen zu antizipieren und mich im Fahrerinnenfeld in eine andere Richtung zu bewegen. Ich bin sehr vorsichtig und verliere lieber ab und zu an Position oder Energie, als ein Risiko einzugehen.
Sie sind Ihrem Heimatkanton bis jetzt treu geblieben. Was verbindet Sie mit Bern und dem Emmental?
Wie Sie schon sagen: «Heimat». Meine ganzen Freunde und Familie sind hier. Nun, im Radsport, bin ich ohnehin den grössten Teil vom Jahr irgendwo anders, dann geniesse ich die Zeit daheim in Bern umso mehr.
Sie engagieren sich sehr stark für Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Zum Beispiel waren sie im Präsidium der Jungen Grünen Bern und haben für den Nationalrat kandidiert. Wie geht das mit dem Profisport zusammen?
Professioneller Sport wird immer mit viel Fliegen verbunden sein – die besten Athletinnen und Athleten müssen sich irgendwo messen. Das ist alles andere als ökologisch. Zudem steckt hinter dem Sport eine unglaubliche Industrie, deren Botschafter die Topathletinnen und -atlethen sind. Ich stehe dem allem kritisch gegenüber und will trotzdem nicht auf mein Leben im Spitzensport verzichten. Ich versuche, mich so umweltbewusst wie möglich zu verhalten – zum Beispiel Velo oder Zug zu fahren – ohne völlig auf Lebensqualität zu verzichten.
Radsport ist in der öffentlichen Wahrnehmung – und auch bei einigen Sponsoren – immer noch ein Männersport. Was müsste sich ändern, damit Frauen hier mehr Unterstützung bekommen?
Es ist genau diese Haltung «Frauen brauchen Unterstützung». Wenn die Investoren und Sponsoren die Augen öffnen und sehen, dass wir ein «Marktsegment» mit grossem Potenzial sind, dann kann der Umschwung kommen. Aktuell besteht ein Teufelskreis: Mangelnde mediale Präsenz, folglich mangelndes Interesse seitens Sponsoren, deshalb fehlende Mittel der Veranstalter und Teams, daher geringe öffentliche Wahrnehmung usw. Es ist wie bei jedem Business, anfangs muss investiert werden und die Zahlen sind rot. Nach zwei bis drei Jahren werden sie schwarz sein.
Jemand der nur so vor Energie strotzt und sich auch noch für die Umwelt engagiert, passt aus unserer Perspektive natürlich perfekt zu uns. Warum passt die BKW aus Ihrer Sicht zu Ihnen?
Berner Kraftwerke! Da fühle ich mich schon des Namens wegen zugehörig (lacht). Mir gefällt die zukunftsweisende Haltung des Unternehmens. Die BKW wird äusserst erfolgreich von einer starken Frau geführt, entwickelt sich laufend weiter und investiert im Bereich nachhaltiger Technologien – nicht als Marketing-Massnahme, sondern weil sie erkannt hat, dass dies die Zukunft sein wird und muss. Das gefällt mir.
Suchen Sie sich gezielt Sponsoren aus und gibt es Wirtschaftsbereiche, die Sie als Sponsoren ablehnen würden?
Ich habe lange nach dem idealen Sponsor gesucht und bin überaus glücklich mit der BKW. Ich verzichte auf vieles, bevor ich eine Zusammenarbeit mit einem Unternehmen eingehen würde, hinter dem ich nicht stehen kann. Im Allgemeinen stehe ich dem Kaufrausch sehr kritisch gegenüber und möchte nicht eine «Lifestyle»-Botschafterin darstellen.
Marlen Reusser
Marlen Reusser (29) stammt aus einer Bauernfamilie im Emmental. Bis zum Alter von 16 spielte sie Geige an der Hochschule der Künste Bern. Nach der Matura studierte sie Medizin und arbeitete als Assistenzärztin für Chirurgie – während der Vorbereitung auf die Strassen-WM in Innsbruck in Teilzeit am Spital Langnau. 2008 – 2009 war sie Präsidentin der Jungen Grünen des Kantons Bern und 2017 – 2018 im Vorstand der Grünen Emmental. Ihre sportliche Laufbahn begann während der Schulzeit als Läuferin. Nach mehreren Operationen an den Sprunggelenken wechselte sie zum Schwimmen und zum Radsport. Die BKW ist Hauptsponsorin von Marlen Reusser.
Sportliche Laufbahn
2017: Schweizer Meisterin, Einzelzeitfahren & Berg
2018: Schwerer Sturz am Strassenrennen Kiesen
2019: Schweizer Meisterin, Strassenrennen & Einzelzeitfahren
European Games in Minsk: Siegerin Einzelzeitfahren
2020: Schweizer Meisterin, Einzelzeitfahren
Europameisterschaft: 2. Platz Mixed-Staffel, 3.Platz Einzelzeitfahren
Weltmeisterschaft: 2. Platz Einzelzeitfahren
Swiss Cycling Award als Schweizer Radsportlerin des Jahres
2021: Olympische Spiele in Tokio: Silbermedaille im Zeitfahren
Rad-WM in Flandern (18. bis 26.9. 2021)