Für einen funktionierenden Schweizer Strommarkt ist eine EU-kompatible Schweizer Regulierung zentral. Doch die Entwicklung des EU-Binnenmarkts schreitet rasant voran. Der Gap zwischen den Bestimmungen in der EU und der Schweiz wird immer grösser. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit unserer Kraftwerke und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Stromwirtschaft, sondern auch auf die Versorgungssicherheit.

Entwicklung des EU-Elektrizitätsbinnenmarkts

Seit über 20 Jahren arbeitet die EU an einem Elektrizitätsbinnenmarkt. Das Ziel ist es, den Konsumenten eine gleichberechtigte Teilnahme am Strommarkt zu ermöglichen, für Unternehmen neue Geschäftschancen zu eröffnen und den grenzüberschreitenden Energiehandel auszubauen. Die weitergehende EU-Marktintegration und der Wandel zu einem System der erneuerbaren Energien (Stromerzeugung mit grösseren Schwankungen) erfordern eine immer weitergehende Koordination der nationalen energiepolitischen Massnahmen.

Doch die Schweiz wird bei dieser Koordination ausgenommen, denn sie ist zwar physisch mit der EU verbunden und technisch in das europäische System integriert, doch ohne ein Stromabkommen ist die Schweiz kein gleichberechtigtes Mitglied dieses Binnenmarkts. Sie hat somit kein Mitbestimmungsrecht und wird bei Entwicklungen nicht miteinbezogen oder gar ausgeschlossen. Bereits 2019 wurde die Schweiz aus dem europäischen Intra-Day-Handel ausgeschlossen, also dem kurzfristigen grenzüberschreitenden Stromhandel.

Anpassungen bei den Grenzkapazitäten

Der EU-Elektrizitätsbinnenmarkt wird fortwährend weiterentwickelt, um ihn den sich verändernden Bedingungen anzupassen. So werden die Rahmenbedingungen für den Stromhandel und die grenzüberschreitenden Leitungskapazitäten – die für den grenzüberschreitenden Stromhandel freigehaltenen Netzelemente – laufend angepasst und optimiert. Gemäss der neuesten EU-Verordnung 2019/943 wird von den Mitgliedstaaten verlangt, dass sie mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente grenzüberschreitend für den Stromhandel zur Verfügung stellen. Spätestens bis 2025 müssen alle Mitgliedstaaten das gesetzte Ziel von 70 Prozent erreichen.

Dies bedeutet, dass EU-Länder die 70-Prozent-Anforderung gegenüber anderen Nachbarn und Mitgliedstaaten umso einfacher erfüllen, wenn sie ihre Kapazitäten zu Drittstaaten wie der Schweiz reduzieren. Dadurch können sie ihre internen Netzengpässe reduzieren und gleichzeitig ihre Handelskapazitäten innerhalb der EU erhöhen. Der in den EU-Staaten ansteigende grenzüberschreitende Stromhandel wird in der Schweiz vermehrt zu ungeplanten Stromflüssen führen.

Konsequenzen für die Schweiz

Die Reduktion der Importkapazitäten und die Zunahme der ungeplanten Stromflüsse über die Schweiz gefährden die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit der Schweiz. Um diese zu gewährleisten, werden Eingriffe bei Kraftwerken (Redispatch-Massnahmen) und Konsumenten (Lastmanagement) notwendig. Konkret bedeutet dies, dass entgegen der wirtschaftlichen Logik - zu hohen Kosten – Kraftwerke kurzfristig an- oder abgeschaltet oder die Produktion von KMU und Industrieunternehmen heruntergefahren werden müssen. Die Kraftwerke werden damit für die Systemstabilität und nicht für den Schweizer und internationalen Markt eingesetzt – die Kosten tragen die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten.

Besonders in den Wintermonaten wäre eine Limitierung der Grenzkapazitäten kritisch, da die Schweiz dann auf den Import angewiesen ist. Zudem könnten aufgrund der Massnahmen die Wasserbestände in der Schweiz gegen Ende des Winters auf ein kritisches Niveau sinken, was wiederum die Versorgungssicherheit beeinträchtigt. Ohne eine Einigung mit der EU bezüglich der institutionellen Beziehungen sowie den Abschluss eines Stromabkommens wird die Schweiz sehr bald – spätestens 2025 – vor grossen, versorgungstechnischen Problemen stehen.

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